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Die Mehr-Dimensionale

Erst verlacht, dann verehrt, jetzt vermisst: Zaha Hadid verfolgte unbeirrt ihre architektonische Vision und stieg zur Grande Dame der Architektur auf. Ihre Arbeit hat die Architektur der Gegenwart verändert.

Sie mochte keine Etiketten. Genau wie ihre Gebäude, die gängige Definitionen stets in Frage stellten, verweigerte sich Zaha Hadid verallgemeinernden Auslegungen ihrer Person und ihrer Arbeit. Ihre Entwürfe sprengten die Dimensionen, sie wollte frei sein: Frei von konservativen Denkmustern, baulichen Routinen, althergebrachten Raumformen.

Das provozierte. Um sie besser zu verstehen, versuchte man ihr Stempel aufzudrücken: Herkunft, Geschlecht, Attitüde. Doch nichts wollte haften – Zaha Hadid bot für jede dieser Kategorien mehrere Interpretationen. Was die Leute über sie denken sei ihr ziemlich egal, erklärte sie 2009 in einem Interview. Dennoch: Ein BBC-Interview brach sie ab, weil der Moderator sie mit provokanten Fragen verärgerte. Die „New York Review of Books“ verklagte sie, nachdem das Magazin behauptet hatte, sie schere sich nicht um die lebensgefährlichen Arbeitsbedingungen beim Bau des Fußballstadiums ein Katar.

Hadid behielt die Deutungshoheit über die Marke Hadid.

Und so kann auch eine Würdigung Hadids nur ein Blick auf die vielen Dimensionen der Grande Dame sein. Und die Erkenntnis, dass sie uns selbst nach ihrem Tod Rätsel aufgibt.

Zaha Hadid, die Araberin

Irakische Herkunft, babylonische Kultur, arabisches Temperament: Hadid verleugnete ihre Wurzeln nicht. 1950 in eine der reichsten Familien Bagdads geboren, erlebte sie ein Land im Umbruch. Zahlreiche Bauprojekte in der Stadt zeugten vom Wandel, daheim lebte sie mit ihren Eltern in einem Haus im Bauhausstil umgeben von italienischen Möbeln. Die Eindrücke prägten Hadid: Sie entwarf ihr eigenes Schlafzimmer. Ein irakischer Handwerker realisierte den Entwurf und nutzte ihn als erfolgreiche Blaupause für weitere Aufträge. Mit 11 Jahren wusste Hadid, dass sie Architektin werden wollte.

Sie entdeckte Europa und fremde Kulturen auf Reisen mit der Familie. Sie erhielt Unterricht in einer Klosterschule im Irak, dann in einem Schweizer Internat. In Beirut studierte sie Mathematik, bevor sie 1972 ein Architekturstudium in London begann. London wurde ihre Wahlheimat, Hadid zur Weltbürgerin: Ständig im Flugzeug unterwegs zu Auftraggebern, Baustellen, Einweihungen. Sie mochte ein gewisses Maß an Hektik und Rastlosigkeit. Wer ihr deshalb aufgrund ihrer Herkunft ein angeborenes Nomadendasein andichten wollte, erntete ein müdes Lächeln. Nationalität war für Hadid kein Identitätssiegel.

Zaha Hadid, die Frau in einer Männerdomäne

Sie gab zu, dass Frauen es in der Architektur schwer hatten. Doch geschenkt haben wollte sie nichts. Hadid ließ sich nicht beirren – und schon gar nicht übervorteilen. Sie glaubte an ihre Vision, kämpfte für ihren Erfolg und sagte konsequent nein, wenn ihr ein Kompromiss nicht gefiel. Ihr starker Wille bescherte ihr den Ruf, schwierig zu sein. „Wenn ich ein Mann wäre, würde das keiner sagen“, raunzte sie. Sie spürte, dass sie als Frau in den Männerbünden der Architektur nicht willkommen war. Und machte dennoch weiter. „Ich lasse mich nicht gern auf meine Herkunft, meine Vergangenheit oder gar meine Rolle als Frau reduzieren“, erklärte sie. Für sie war nur eine Charakterisierung akzeptabel: „Ich bin Architektin und beschäftige mich als solche mit der Zukunft des Bauens und Wohnens.“

Zaha Hadid, die Kompromisslose

Ihr erster Bau, das Vitra Feuerwehrhaus, goss 1993 extreme Formen in Beton. Hadids Entwurf verweigert sich dem rechten Winkel, scharfkantig scheint das Gebäude dem Betrachter beinahe entgegenzuspringen. Ein Gebäude bereit zum Angriff, ein radikaler Entwurf.

Ihr Ansatz ließ viele Bauherren zögern, Aufträge waren lange Zeit rar. Wenn sie ihre Chance bekam, setzte Hadid Duftnoten: 2003 mit dem Rosenthal Center for Contemporary Arts in Cincinnati, 2004 beim BMW-Werk in Leipzig, 2005 mit dem phaeno Wissenschaftsmuseum in Wolfsburg: Enorme, starke Bauten aus Beton und Stahl.

Und dann wurde sie plötzlich weich: Anders als ihre vorigen Entwürfe ist die Bahnstation der Hungerburgbahn in Innsbruck fließend in ihrer Form und scheint beinahe über dem Boden zu schweben. Scharfe Kanten haben sich in verschlungene, körperliche Formen gewandelt.

Mehr als ein Jahrzehnt nach ihrem Durchbruch erschlossen Hadids Entwürfe weichere Formwelten.

Der mobile Chanel Pavillon, das Guangzhou Opera House in China, das Heydar Aliyev Center in Aserbaidschan: Hadid zeichnete jetzt Gebäude wie Skulpturen. Die Formsprache der Architektin hatte sich verändert, das Ziel ihrer Arbeit blieb gleich: neue Raumformen erforschen, neue Lebensformen ermöglichen.

AWARDS

2016 RIBA Royal Gold Medal

2015 Artnet 100 Most Influential People in the Art World

2014 ACADIA (Association of Computer Aided Design in Architecture) Lifetime Achievement Award

2012 Dame Commander of the Order of the British Empire for services to architecture

2011 Arabian Business Magazine’s ‚World’s 50 Most Powerful Arabs‘

2006 Deutscher Betonbaupreis für das Zentralgebäude des BMW-Werks Leipzig

2004 Pritzker-Preis London Architect of the Year, London Architectural Biennale

2003 Mies van der Rohe Award for European Architecture

Zaha Hadid, die Entdeckerin des Neuen

Formen, Materialien, Ideen: um sich weiterzuentwickeln, musste laut Hadid alles permanent hinterfragt werden. Vom ersten Gedanken bis zum fertigen Entwurf entstanden in ihrem Büro meist Hunderte Versionen, mit denen Hadid und ihr Team neue Raumkonzepte und Dimensionen erschlossen.

Wandel war für Hadid ein bestimmendes Thema. Sie sah die stetige Erneuerung von Technik und Kunst und fand, dass gerade die Architektur den Wandel umarmen müsse. Früh erkannte sie die Chancen der Computertechnologie. Sie begriff Computer als Designmedium, mit dem Entwürfe befreit und dynamisiert werden konnten.

Und obwohl sie PCs als neues, vielversprechendes Zeicheninstrument verstand, blieb sie persönlich in der analogen Welt verhaftet. Nur ungern löste sie sich von Papier; sie konnte ihre Ideen auf dem Skizzenblock schneller visualisieren. Über Jahre hatte sie ihre Technik perfektioniert: Aus der Vogelperspektive zeichnete sie unzählige abstrakte Gebäude, dann den eigentlichen Entwurf, kolorierte einzelne Oberflächen und Details. Schon ihre Zeichnungen sind ein Kunstwerk für sich, auf dem Markt gehandelt für Zehntausende Dollar.

Zaha Hadid, die Einzigartige

Das Label hätte ihr wohl gefallen. Dennoch: Hadids Arbeit wird auch nach ihrem Tod weitergeführt. Ihr Büro Zaha Hadid Architects (ZHA) beschäftigt rund 300 Architekten und arbeitet derzeit an Projekten wie dem One Thousand Museum Wohnturm in Miami und der Danjiang Brücke in China.

Wer kann ihr Erbe antreten?

Rem Kolhaas glaubt, dass ZHA Hadids Werk fortführen kann, wenn das Büro von der Modewelt lernt: Große Labels wie Alexander McQueen und Chanel konnten ihre Bedeutung auch nach dem Tod ihrer kreativen Köpfe beibehalten, indem sie sich auf deren künstlerische DNA konzentrierten. Chanel hat dank Karl Lagerfeld seinen Status zementiert und ausgebaut, das Modehaus Alexander McQueen wird mittlerweile von dessen Vertrauter Sarah Burton erfolgreich geführt. Bei ZHA ist jetzt an Hadids langjährigem Partner Patrick Schuhmacher, das Werk der Grande Dame weiterzuentwickeln. Ihr Tod hinterlässt unbestreitbar eine große Lücke, doch Hadids Werke und ihre Lehrtätigkeit warfen schon zu Lebzeiten einen langen Schatten, der über ihr eigenes Büro hinausreichte. Weltweit blicken aufstrebende Architekten auf ihre Entwürfe und eifern ihr nach. Studenten ihres letzten Kurses an der Yale School of Architecture präsentierten unlängst ihren Entwurf für den Bishopsgate Goodsyard in London, die letzte große unerschlossene Fläche der Metropole. Ihr Entwurf ehrt die Lehrmeisterin mit einem Gebäudeensemble aus skulpturalen Elementen und fließenden Formen. Ganz nach Hadids Überzeugung: „Ich glaube daran, dass sich in der Architektur etwas ausdrücken kann, von dem wir noch nicht ahnen, das es möglich ist – eine neue Ordnung der Dinge, ein anderer Blick auf die Welt.“