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Geschichte in Beton gegossen

In Kanada haben die Architekt:innen eines Studentenwohnheims Vergangenheit und Moderne auf besondere Weise miteinander verbunden. Bei Recherchen zur Geschichte des Baugrunds stießen die Planer auf Filmaufnahmen, die Montreal zu Beginn des 20. Jahrhunderts zeigen. Ein kultureller Schatz, den sie mithilfe von Fotogravur-Matrizen am Gebäude verewigten.

Es ist ein kalter Wintertag im Jahr 1901, als der Kameramann William Paley seine Kamera vor der Feuerwache in Montreal aufstellt und die Feuerwehrleute dabei filmt, wie sie zum Einsatz ausrücken. Die Schwarz-Weiß-Bilder, aufgenommen mit einem Gerät des amerikanischen Erfinders Thomas Edison, zeigen knapp zwei Minuten lang wie die Männer auf Pferdewagen durch den Schnee an der Kamera vorbeifahren. Der Film ›Montreal Fire Department on the runners‹ ist eine der frühesten Bewegtbildaufnahmen von Montreal und lagert heute in der Library of Congress in Washington D.C. Mehr als 100 Jahre nach seiner Entstehung entdecken die Architekt:innen eines Büros in Montreal den Film wieder und erwecken ihn zu neuem Leben.

Die Planer:innen des kanadischen Büros Kanva arbeiten an Entwürfen für ein Gebäude mit 30 Studentenapartments. Es soll auf einem Grundstück entstehen, das seit einem Feuer Anfang des 20. Jahrhunderts nicht mehr bebaut worden ist. Das Team von Kanva folgt bei seinen Entwürfen gern einem interdisziplinären Ansatz und tauscht sich dafür mit Künstler:innen und Kreativen aus.

Als sie das Wohngebäude unweit der McGill University in Montreal zu planen beginnen, stoßen sie auf die Filmszenen vor der alten Feuerwache in Montreal. Sie sind so fasziniert davon, dass sie beschließen die Bilder in ihr Projekt einzubinden.

Filmsequenzen als Fotogravur auf der Fassade

»Der historische Kontext des Geländes wurde zur bestimmenden Inspiration für das städtische Erneuerungsprojekt, das zur Entdeckung einer innovativen Betonverarbeitungstechnik führte: der Einsatz gravierter Betonfertigteile, mit denen das Gebäude eine Geschichte erzählt«, erklären die Architekt:innen die Entscheidung für die Fotogravur-Technik.

Die Edison Residence setzt dem Erfinder nicht nur durch die Namensgebung ein Denkmal, sondern auch optisch. Auf der Fassade finden sich Sequenzen des Films, die als Fotogravur auf den Beton aufgebracht wurden.

Möglich wird dieser Effekt durch den Einsatz elastischer Matrizen von RECKLI, die das Motiv in den Beton prägen. Die Architekt:innen wählten mehrere Standbilder aus, die zusammen jeweils eine Sequenz ergeben. Für die Herstellung der Fotogravur-Matrizen wurden die Bildvorlagen eingescannt und in Dateien mit 256 Graustufen umgewandelt. Aus den ermittelten Grauwerten wird eine Bearbeitungsdatei generiert, anhand derer die CNC-Fräse das Motiv in einen Plattenwerkstoff fräst. So entsteht ein Positivmodell, das als Vorlage für die RECKLI-Matrizen dient. Die elastischen Formen entstehen, indem Elastomere auf das Positivmodell gegossen werden. Nachdem sie ausgehärtet sind, können die Matrizen im Fertigteilwerk oder direkt auf der Baustelle eingesetzt werden. Dafür werden sie vor dem Betonieren in die Schalung eingelegt und erzeugen eine feine bis grobe reliefartige Oberflächenstruktur. Anschließend können sie dank ihrer Elastizität problemlos entschalt werden. Die Matrizen sind so robust, dass sie mehrfach wiederverwendet werden können – ein Umstand, der ein so aufwändiges Verfahren wie die Fotogravur wirtschaftlich macht.

Überraschend zart und unaufdringlich erscheinen die Bilder auf dem harten und sonst so dominanten Baustoff.

Abhängig vom Winkel, in dem man sich Gebäude nähert, verändert sich die Wahrnehmung: Von weitem erwecken die verschiedenen Graustufen den Eindruck einer durch Witterung gealterten Fassade. Je näher man kommt, umso klarer werden die Bilder, bis sie sich schließlich zu kurzen Sequenzen zusammenfügen. So öffnet die Fassade der Edison Residence ihren Bewohner:innen und Betrachter:innen ein Fenster in die Vergangenheit der Stadt.